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Sattelsitz – Unterschiede zwischen männlichem und weiblichem Becken und die Aufgabe des Saddlefitters

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Einleitung

Der Sattel ist die Verbindung zwischen Pferd und Reiter. Er muss auf der Unterseite dem Pferd passen – und auf der Oberseite dem Reiter.
Was für den einen Reiter angenehm und funktional ist, kann für den nächsten vollkommen unbrauchbar sein.
Daher gilt: Die Beurteilung des Sattels muss immer individuell erfolgen.

☝Wichtig: Für das richtige Erfassen des Sitzgefühls im Sattel ist zunächst ein auf seinen Schwerpunkt ausgerichteter Sattel auf einem Sattelbock notwendig. Am besten in der Kopfeisenweite, wie am Pferd aktuell benötigt. Auf dieser Basis können Sättel auch untereinander fair verglichen werden. Hierfür dient das Probesitzen in der Werkstatt.


1. Warum Diskussionen oft in die Irre führen

In Reiterkreisen entbrennen schnell Debatten:

  • „Der Sitz muss tief sein!“
  • „Nein, flach ist besser!“
  • „Es gibt Frauensättel – alles andere ist Quatsch!“

Solche Gespräche laufen selten sachlich ab und beruhen meist auf persönlichen Erfahrungen. Fachliche Grundlagen oder eine tatsächliche Anprobe mit dem betreffenden Reiter fehlen fast immer.
Darum ist es unerlässlich, dass die Person, die den Sattel später reiten soll, auch tatsächlich Erfahrungen mit dem Sattel, ggf. der Ausführung und der Sitzgröße hat, oder diesen zunächst in der Werkstatt probesitzt und anschließend während der Satteleinrichtung probereitet. Daher ist die genaue Produktbenennung (Code) im Austausch von Erfahrungen in einem Sattel ein weiteres wichtiges Detail.


2. Anatomische Unterschiede – männliches vs. weibliches Becken

Grundaufbau

Das Becken ist der zentrale Übergang zwischen Ober- und Unterkörper:

  • oben verbunden mit Wirbelsäule und Kreuzbein
  • unten mit den Oberschenkeln über die Hüftgelenke
  • vorne über die Schambeinfuge (Symphyse)
  • hinten über das Iliosakralgelenk

Unterschiede Mann – Frau

  • Schambeinbogen: bei Männern höher, bei Frauen tiefer → Risiko von Druckbelastungen im Schambereich, wenn Becken nach vorn kippt oder die Satteltaillierung ungünstig ist.
  • Beckenneigung: in der Literatur widersprüchlich. Neuere Studien zeigen: Männer und Frauen haben größtenteils vergleichbare Werte (ca. 55–65 °). Unterschiede sind also individuell, nicht grundsätzlich geschlechtsspezifisch.
  • Sitzbeinhöcker-Abstand: Werte überschneiden sich stark (Frauen 9–17 cm, Männer 9–16 cm). Kein klarer Unterschied.

👉 Ergebnis: Es gibt Unterschiede – aber keine feste Regel. Der Einzelfall zählt.


3. Sitzlänge und Sitzbreite

Sitzlänge

  • Richtet sich nach Oberschenkellänge und Gesäßgröße.
  • Zu kleiner Sattel = Reiter kippt nach vorn.
  • Zu großer Sattel = Reiter rutscht nach hinten („Stuhlsitz“).
  • Faustregel: Vorne und hinten je ca. 5 cm Platz.

Sitzbreite

  • Bestimmt durch den Abstand der Sitzbeinhöcker.
  • Abstand + 6–8 cm = empfohlene Auflagefläche.
  • Zu breit = Hüftschmerzen, zu schmal = Druckstellen.

👉 Beispiel: Ein 1,90 m großer Mann kann eine schmalere Sitzfläche brauchen als eine 1,65 m große Frau – abhängig von Beckenknochen und Körperbau, nicht vom Geschlecht.


4. Beckenneigung und Haltung

  • Nach vorn gekipptes Becken → Risiko Druck auf Schambein, Hohlkreuz.
  • Nach hinten gekipptes Becken → Rundrücken, Verlust der natürlichen Lendenlordose.
  • Einflussfaktoren: langes Sitzen, Übergewicht, Schwangerschaft, Schuhe mit Absätzen.

Ausgleich

  • Kräftigung Bauch- und Gesäßmuskeln
  • Dehnung Hüftbeuger
  • Neutraler Sitz als Ziel: Becken weder zu stark nach vorn noch nach hinten geneigt.

5. Die Taille des Sattels („Twist“)

  • Nicht zu verwechseln mit Sitzbreite.
  • Bestimmt, wie die Beine nach unten geführt werden.
  • Zu enger Twist → Schmerzen im Schambereich.
  • Zu weiter Twist → Gefühl von Instabilität.

👉 Die Taille ist für den Komfort entscheidender als Sitzbreite oder Sitzlänge.


6. Hüftgelenk und Bewegungsfreiheit

  • Zu breiter Sitz → Schmerzen bis ins Knie oder in die Zehen.
  • Einschränkung Hilfengebung: Waden- und Fußarbeit werden verfälscht.
  • Steigbügelaufhängung beeinflusst Sitzhaltung direkt (z. B. Stuhlsitz bei falscher Position).

7. Sitzform: flach, tief, hart oder weich?

  • Flach → Bewegungsfreiheit (z. B. Springreiten).
  • Tief → Stabilität, aber weniger Bewegungsfreiheit (z. B. Dressur).
  • Hart (z. B. Westernsattel) → auf Dauer oft bequemer, weil Druck gleichmäßig verteilt wird.
  • Weich → kann Sitzbeinhöcker einsinken lassen, Steißbeinprobleme.

8. Typische Anzeichen für einen ungeeigneten Sitz

  • Schmerzen in Becken, Hüfte, Knie, unterem Rücken
  • Druck auf Sitzbeinhöcker, Steißbein oder Schambein
  • Probleme bei der Hilfengebung
  • Zehen lassen sich nicht nach vorn richten

👉 Studien aus dem Radsport zeigen ähnliche Belastungsmuster (Studie Deutsche Sporthochschule Köln), auch wenn Reiten und Radfahren sich in der Beinführung unterscheiden.


9. Fazit – die Aufgabe des Saddlefitters

Die Forderung nach speziellen Frauen- oder Männersätteln ist nicht haltbar.
Entscheidend sind:

  • Körperbau (Becken, Sitzbeinhöcker-Abstand, Beckenneigung)
  • Sitzform (Länge, Breite, Twist)
  • Bewegungsfreiheit und Disziplinanforderungen

Trainer, Bereiter oder Stallkollegen können Eindrücke schildern, aber nicht fachlich fundiert beurteilen, warum ein Sattel passt oder nicht.

👉 Genau das ist meine Aufgabe als Saddlefitter:

  • den individuellen Körperbau analysieren,
  • mit dem Reiter probieren,
  • die optimale Anpassung für Pferd und Reiter sicherstellen.

☝ Da das Pferd sich öfter verändert, verändern sich damit auch wieder das Sitzgefühl und die Position im Sattel, sowie die Belastung am Pferd. Hierdurch wird wieder eine andere Kopfeisenweite, ggf. auch eine Polsterveränderung benötigt. Um dieser natürlichen Veränderung nachzukommen, muss dem Reiter entsprechendes Wissen vermittelt werden. Der Weg, dies möglichst frühzeitig zu erkennen und einen einfachen Kopfeisenwechsel sicher selbst zu beherrschen, muss geschult werden, denn hiermit schützen wir frühzeitig das Pferd und das Sattelkissen vor negativen Einwirkungen.
Bei Routinechecks, wie sie bei den meisten Pferden alle 2–3 Monate üblich und notwendig sind, arbeiten Sie bitte genau nach meinen Anweisungen oder vereinbaren einen Termin.

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